"Mit der Achtsamkeit ist es ähnlich wie mit Sport und gesunder Ernährung: Dass und warum es gut für uns ist, kann man schnell nachvollziehen. Das theoretische Verständnis hilft uns aber gar nichts, solange wir weiterhin von Fast-Food leben und Fernsehfußball unsere einzige sportliche Betätigung bleibt."
(Esther und Johannes Narbeshuber)
Achtsamkeit braucht regelmäßiges praktisches Training, damit sie uns dann zur Verfügung steht, wenn wir sie am meisten brauchen. Zum Beispiel in belastenden, stressigen Situationen, in denen wir...
- klar und zugleich empathisch mit anderen kommunizieren wollen
- kluge und umsichtige Entscheidungen treffen müssen
- den Kontakt zu unserer eigenen Mitte, Ruhe und Lebendigkeit benötigen
- den größeren Zusammenhang der Herausforderungen im Blick behalten sollten
Ohne regelmäßige Praxis kippen wir nur allzu schnell zurück in unsere automatisierten Denk- und Verhaltensmuster. Gerade dann, wen wir selbst und unser Umfeld das am wenigsten gebrauchen können.
Der eigene Schulungsweg
Zur Schulung der persönlichen Achtsamkeit gibt es viele unterschiedliche Zugänge. Die Achtsamkeitsverbände arbeiten ausdrücklich traditionsübergreifend. Wir freuen uns über die Vielfalt und Tiefe der verschiedenen Schulungswege und bauen Brücken, die uns helfen können, Gemeinsamkeiten zu entdecken und an Unterschiedlichkeiten zu wachsen.
Die meisten unserer Mitglieder sammeln Erfahrungen mit verschiedenen Angeboten und Perspektiven. Viele von ihnen haben irgendwann einen mehrjährigen, manchmal sogar lebenslangen Hauptbezugspunkt gefunden. Das mag eine Vertiefung ermöglichen, die weit über die ersten, vergleichsweise leicht erreichbaren "Benefits" der Achtsamkeitspraxis hinausgeht. Achtsamkeit ist in jedem Fall ein Zugang, der unseren eigenen "inneren Kompass" stärken wird, die Menschen und Angebote zu finden, die zu uns passen.
Auf der Suche nach einer geeigneten Praxis können vielleicht folgende Fragen weiterhelfen:
- Was ist mein Anliegen für meine Achtsamkeitspraxis? Warum will ich mich damit überhaupt näher auseinandersetzen?
- Ist mir ein bewusst säkulärer, wissenschaftlich orientierter Zugang wichtig oder möchte ich meine Praxis mit einer bestimmten religiösen Tradition oder spirituellen Ausrichtung verbinden?
- Welche Angebote gibt es an meinem Wohnort / in meiner Region?
Wer schon ein wenig Erfahrung gesammelt hat, wird vermutlich abgleichen:
- Mit welchen Trainer/innen bzw. Lehrenden fühle ich mich am wohlsten? Bei wem habe ich das Gefühl, nach meinen eigenen Ansprüchen gemessen "weiterzukommen"?
- Wie geht es mir mit den Teilnehmenden bzw. der dortigen "Community"? Wer ist mir sympathisch, wer inspiriert mich? Die Achtsamkeitspraxis konsequent zu pflegen geht mit Gleichgesinnten ungleich leichter als ganz alleine.
- Welcher Zugang macht es am wahrscheinlichsten, dass ich regelmäßig dranbleibe?
Programme und Wege zur Schulung der individuellen Achtsamkeit
Achtsamkeit in ihrer heutigen Form geht auf altes Menschheitswissen zurück, dass in allen Kulturen aufgetaucht ist. Schon seit Jahrtausenden bereichern und befruchten sich die verschiedenen Zugänge immer wieder gegenseitig. Viele große Lehrer/innen fühlen sich mehreren Traditionen gleichermaßen verpflichtet. Fragen nach einem exakten "Was kommt woher?" lassen wir deshalb getrost dort, wo sie wichtiger sind als auf dieser allgemeinen Überblicksseite.
Säkuläre, wissenschaftlich untersuchte Programme
MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction)
Die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion wurde 1979 von unserem Ehrenmitglied Jon Kabat Zinn an der Universitätsklinik von Massachusetts (USA) entwickelt. MBSR wird an vielen Kliniken, sozialen sowie pädagogischen Institutionen und in Organisationen innerhalb der USA und zunehmend auch in Europa mit grossem Erfolg angeboten. Es ist das bis heute am besten klinisch und naturwissenschaftlich beforschte Achtsamkeits-Programm. Es dauert in seiner klassischen Form 8 Wochen mit je zweieinhalbstündigen Gruppensitzungen und einem abschließenden Übungstag in Stille. Dazwischen ist eine formelle Übungspraxis von täglich 45 Minuten vorgesehen. MBSR-Lehrende und Kurse gibt es heute praktisch überall im deutschsprachigen Raum.
Viele MBSR-Lehrer/innen sind im MBSR-Verband ihres jeweiligen Landes organisiert. Dieser stellt z.B. die Qualität der Ausbildung sicher, verhandelt Kassenverträge und veranstaltet Kongresse und Fortbildungen.
Deutschland: https://www.mbsr-verband.de
Österreich: https://mbsr-mbct.at
Schweiz: https://www.mindfulness.swiss
MSC (Mindful Self-Compassion)
MSC wurde von Dr. Christopher Germer, einem klinischen Psychologen und Dozenten für Psychiatrie an der Harvard Medical School und der Selbstmitgefühls-Forscherin Dr. Kristin Neff, Professorin an der University of Texas entwickelt.
Es ist ein empirisch gestütztes, wissenschaftlich untersuchtes 8-Wochen-Programm, das konzipiert wurde, um unsere Fähigkeit zu Selbstmitgefühl zu entwickeln.
MSC kombiniert die Fertigkeiten von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl, um unsere Fähigkeit zu emotionalem Wohlbefinden zu stärken. Achtsamkeit ist der erste Schritt – uns mit liebevollem Gewahrsein schwierigen Erfahrungen (Gedanken, Gefühlen und Empfindungen) zuzuwenden. Selbstmitgefühl folgt im Anschluss - uns selbst in leidvollen Situationen liebevolles Gewahrsein entgegenzubringen. Zusammen ergeben Achtsamkeit und Selbstmitgefühl einen Zustand von warmer, verbundener Präsenz während schwieriger Momente in unserem Leben.
Ein Achtsamkeitskurs, wie z.B. das MBSR-Programm (Mindfulness-Based Stress Reduction) von Jon Kabat-Zinn, kann eine ideale Grundlage für den MSC-Kurs sein. Obwohl sich MBSR und MSC wunderbar ergänzen, ist ein MSC-Kurs ganz eigenständig und kann auch ohne Erfahrung mit MBSR besucht werden.
MBCL (Mindfulness-Based Compassionate Living)
MBCL wurde ab 2007 von dem niederländischen Psychiater und Psychotherapeuten Dr. Erik van den Brink und dem Meditationslehrer und Psychiatriepfleger Frits Koster entwickelt. Neueste wissenschaftliche Studien legen nahe, dass die Entwicklung von Mitgefühl – vor allem mit uns selbst – einer der Schlüsselfaktoren für seelische Gesundheit ist. Durch praktische Übungen lässt sich diese uns allen innewohnende menschliche Fähigkeit entwickeln und vertiefen. Darüber hinaus kann MBCL die Fähigkeiten zur Stressbewältigung und Rückfallprophylaxe vertiefen und stärken, die im MBSR- und MBCT-Kurs erworben wurden.
https://www.institut-fuer-achtsamkeit.de/leistungsspektrum/mbcl/was-ist…
Meditationswege westlicher Traditionen
Christentum
Jedes Mal, wenn wir uns hinsetzen, um zu meditieren, gelangen wir in diese Einheit, in die Einheit des Gottes, der jetzt ist, der die Liebe ist.
(John Main)
Ich will sitzen
und will schweigen
und will hören,
was Gott in mir redet.
(Meister Eckhart)
Die christliche Tugend der Achtsamkeit wird in vielen Klöstern und Gemeinschaften vermittelt. Neben dem Begriff der "Meditation" spielen im Christentum auch die Begriffe "Kontemplation" und - ganz wesentlich - "Begegnung" eine bedeutende Rolle, die auf die Kernqualitäten der Achtsamkeitspraxis hinweisen: Versenkung und Aufwachen an einem Gegenüber. Im christlichen Verständnis gilt dieses Aufwachen der Gegenwart Gottes in der Schöpfung und jedem Mitmenschen.
Bedeutende Lehrende christlicher Achtsamkeit sind heute z.B. Bruder David Steindl-Rast, Pater Anselm Grün, Bernardin Schellenberger, Richard Rohr.
Judentum
"Kawana" ist ein Begriff, den wir ursprünglich auf das Gebet anwenden: mit voller Absicht, aus vollem Herzen beten. Doch wenn Kawana auch bedeutet, sich im Alltag auf etwas zu konzentrieren und bei der Sache zu bleiben, dann muss man das sein ganzes Leben lang praktizieren.
(Rabbi Avichai Apel)
Ein weiterer jüdischer Begriff zur Achtsamkeit ist Yishuv HaDa'at. Er beschreibt einen zentralen Aspekt des jüdischen Lebens. Mit Rabbi Benjamin Epstein lässt er sich am besten mit "Einswerden mit/Sich einlassen auf das Gewahrsein des gegenwärtigen Moments" übersetzen.
Besonders engagiert in der jüdischen Achtsamkeit ist zur Zeit das in New York ansässige Institute for Jewish Spirituality.
Islam
Eine islamische Art von Achtsamkeit zu sprechen ist mit dem Begriff Khuschu verbunden. Das bedeutet Konzentration und Demut im Gottesdienst (insbesondere in den Gebeten), während man aus vollem Herzen gegen alle Ablenkungen kämpft. Um Khuschu zu erreichen, muss man in der Lage sein, die Welt um sich zu vergessen und im Augenblick zu leben. Man muss völlig achtsam sein, denn man steht vor Gott und betet zu Ihm.
Al-muraqabah bezeichnet die Geisteshaltung, in der der Gläubige sich mit ganzem Herzen und mit ungeteilten Gedanke dessen gewahr ist, dass sein innerer Zustand und seine äußeren Taten jederzeit vor dem Allmächtigen offenbar sind.
Meditationswege östlicher Traditionen
Buddhismus
Der Buddhismus ist ohne Zweifel die Tradition, die sich am eingehendsten und sorgfältigsten mit der Achtsamkeits-Schulung auseinandergesetzt hat und ist in vieler Hinsicht die zentrale Quelle unseres heutigen Verständnisses davon. Auch wenn er in verschiedenen Teilen der Welt als Religion praktiziert wird, betrachtet man ihn vor allem in westlichen Ländern eher als ethische Grundlage einer ganzheitlichen Lebensphilosophie. Viele Vertreter/innen westlicher Religionen sind sich heute einig, dass sich buddhistische Anleitungen und Meditationstechniken gut mit ihrem jeweiligen Glauben vereinbaren lassen.
Als drei Hauptströmungen des Buddhismus im Westen gelten
- Vipassanā mit bekannten Vertreter/innen wie Jack Kornfield, James Baraz, Joseph Goldstein, S. N. Goenka, Sharon Salzberg
- Tibetischer Buddhismus mit bekannten Vertreter/innen wie Dalai Lama, Ole Nydahl, Matthieu Ricard, Pema Chödrön
- Zen mit bekannten Vertreter/innen wie Thich Nath Hanh, Shunryū Suzuki, Bernard Glassman, Willigis Jäger, Joan Halifax
Yoga
Die meisten Menschen denken bei Yoga an Körperübungen, die sogenannten „Asanas“. Im ursprünglichen Sinn ist Yoga eine Lebenseinstellung und Philosophie in der Achtsamkeit eine zentrale Rolle spielt. So wie Achtsamkeit auch ist Yoga keine Religion und kann von Anhängern aller Glaubensrichtungen und konfessionslosen Menschen geübt werden. Das sehr alte, ganzheitliches Übungssystem kommt aus Indien. Es hilft, Körper, Geist und Seele ins Gleichgewicht zu bringen und kann auch als „Einheit“, „Verbindung“ und „Harmonie“ übersetzt werden. Wesentliche Quellen sind Patanjalis Beschreibungen zu Yoga und Meditation und die Philosophie des Advaita Vedanta.
Daoismus
Der Daoismus ist eine chinesische Philosophie und Religion, in deren Zentrum die Lehre vom Dao, steht. Das Wort „Daoismus“ wird als „Lehre des Weges“ oder „Lehre vom Weg“ übersetzt. Zum Daoismus gehören unter anderem das Qi-Konzept, das Prinzip von Yin und Yang und verschiedene Übungen zur Kultivierung des Körpers und des Geistes. So wurden im Daoismus auch die Achstamkeitsprqaktiken Tai Chi und Qi Gong entwickelt.
Bahai
Neben dem Werk des Religionsgründers Bahāʾullāh zählen die Bahai auch die Heiligen Schriften anderer Weltreligionen zum gemeinsamen religiösen Erbe. Die Religionsstifter schöpfen nach dem Glauben der Bahai alle aus derselben göttlichen Quelle. Die unverkennbaren Unterschiede zwischen den Religionen seien primär historisch bedingt: Sie gelten als Ausdruck unterschiedlicher Bedürfnisse und kultureller Prägungen. Aus Sicht der Bahai sin Gebet und Meditation für die geistige Gesundheit lebenswichtig.
Sufismus
Die mystische Tradition des Sufismus ist im islamischen Kulturraum weit verbreitet. Der sufische Dichter Rumi hat im 13. Jahrhundert ein Werk geschaffen, das die Transformation unseres Bewusstseins durch Achtsamkeit in große Schönheit anschaulich macht. Ende des 20. Jahrhunderts bildeten sich im Westen Orden nach sufischem Vorbild oder Ableger traditioneller Sufiorden, die teilweise nicht-muslimische Mitglieder akzeptieren.
Jüngere, traditionsübergreifende Schulen
Anthroposophie
Die Weltanschauung der Anthroposophie geht auf Rudolf Steiner (1861 - 1925) zurück, der neben den bekannten Impulsen für die Waldorf-Pädagogik und die bio-dynamische Landwirtschaft auch einen differenzierten spirituellen Schulungsweg aufzeigt. Die sogenannten "5 Nebenübungen" sind eine hervorragende Einstiegsmöglichkeit in die individuelle Achtsamkeitspraxis.
Bedeutende Vertreter/innen dieses Zugangs sind heute z.B. Otto Scharmer, Lisi und Tho Ha Vinh, Arthur Zajonc
Der "vierte Weg" nach Gurdjeff
Das System von Georges I. Gurdjeff (1866 - 1949) zielt darauf ab, alle Teile oder „Zentren“, die laut Gurdjieff den Menschen ausmachen, harmonisch zu entwickeln und zu integrieren: das Denken, das Fühlen und die Bewegungen des Körpers. Erst durch die Integration dieser drei Zentren oder Zugänge zur Welt entsteht ein neuer, vierter Zugang. Die beständige Übung der Achtsamkeit ist ein wesentliches Element dieses Wegs.
Diamond Approach / Ridhwan-Schule
Der Weg der Diamanten (engl. Diamond Approach) bezeichnet die innere Arbeit und spirituelle Lehre der von Hameed Ali (H.A. Almaas) gegründeten Ridhwan-Schule. Dieser Ansatz stellt eine originäre Lehre dar, die Psychologie und Phänomenologie der Gegenwart mit Erkenntnissen spiritueller und mystischer Traditionen aus Ost und West integriert.
Integrale Lebenspraxis
Die Integrale Lebenspraxis nach Ken Wilber ist als Modulsystem aufgebaut. Sie enthält vier Kernmodule, fünf Hilfsmodule und zusätzliche frei wählbare Module. Aus jedem Modul wird eine konkrete Praxis ausgewählt und regelmäßig geübt. Ziel dieses transformativen Trainings ist es, das persönliche Wachstum zu beschleunigen und die Wahrscheinlichkeit einer gesunden Entwicklung zu erhöhen.
Digitale Angebote und Meditationstechnologien
Wir halten Apps und technische Tools nicht für eine taugliche alleinige Option für eine langfristige Vertiefung der persönlichen Achtsamkeitspraxis.
Für viele Menschen sind sie aber eine hervorragende Unterstützung beim Einstieg. Angeleitete Übungen, Erinnerungshilfen und sogar Bonuspunkte-Systeme können uns helfen, erste Erfahrungen des zur Ruhe Kommens zu sammeln und eine Routine aufzubauen.
Die technologischen Unterstützungsmöglichkeiten sind dabei vielfältig:
Online-Kurse, z.B. von Britta Hölzel, Tara Bach und Jack Kornfield, James Baraz
Apps mit Meditationsanleitungen, z.B. Calm, 7Mind, Headspace, Omvana, BamBu
Apps mit Erinnerungsfunktion, z.B. Just Reminder (Erinnerung zu exakt vorgegebenen Zeitpunkten), Randomly Remind Me (für zufällige Erinnerungsimpulse im Tagesverlauf)
Gadgets mit Monitoring und Feedback zu physiologischen Parametern, z.B. BrainBot, Muse, Emotive